Russischer Oppositionspolitiker Androssow: In der Ukraine ein “Krieg der Europäischen Zivilisation mit der Barbarei”

von Konstanze Kobel-Höller und Linus Höller

Dimitri Androssow, 31, ist Mitglied im Vorstand der liberalen Oppositionspartei PARNAS und hat auch für die Duma kandidiert. Unter anderem hat er mit Alexei Nawalny Wahlkampf betrieben.

Er hat Deutsch, Englisch und International Relations studiert, unter anderem in Moskau, Budapest und Würzburg.

2014 war er Stipendiat im deutschen Bundestag, bis 2021 hat er für die OSZE in Prag gearbeitet. Aktuell ist er Lehrer in Moskau.

Androssow ist ein ausgesprochener Kritiker Putins, besonders was die Invasion der Ukraine angeht, welche am 24. Februar begann. Wegen seiner Tätigkeiten geriet er ins Fadenkreuz der russischen Behörden, wurde verhaftet und zu einer Woche im Gefängnis verurteilt.

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Wieso wurden Sie verhaftet? 

Ich habe sofort am 24. Februar auf Social Media die Russen aufgefordert, wegen des Ukraine-Krieges nicht zu schweigen und auf die Straße zu gehen. Abends war ich mit drei Parteikollegen auf der Kundgebung in Moskau. Einer von ihnen wurde gleich festgenommen, ich konnte mich noch losreißen. Am übernächsten Tag, dem Samstag, kamen sie dann zu mir nach Hause und haben an die Türe geklopft. Aber man muss nicht aufmachen. Sie haben alles versucht, die Nachbarn geweckt und sogar den Strom abgeschaltet. Am Sonntag bin ich aus der Wohnung raus und da haben sie mich gleich in der U-Bahn festgenommen, weil ich auf der Fahndungsliste stand. 

Wie ging es dann weiter? 

Ich wurde über Nacht ins Polizeirevier gebracht, das war nicht angenehm in der Zelle. Am nächsten Tag ging es dann zum sogenannten Gericht, wo ich dem Richter gesagt habe, dass er jetzt ein Verbrechen begeht. Zu meiner Überraschung habe ich nur sieben statt zehn Tage Haft bekommen. Sogar bis zu 30 Tage sind möglich, wenn es als Wiederholunsgstat beurteilt wird. Ich bin im November auch schon festgenommen worden, aber weil das Verfahren wegen unseres Einspruchs noch läuft, wurde das jetzt als erster Fall behandelt. Nach noch einer Nacht im Polizeirevier ging es dann mit dem Auto auf eine 14-Stunden-Reise ins Gefängnis. Die Polizei war einfach damit überfordert, alle festgenommenen Menschen ins Gefängnis zu bringen. 

Wie war es dort? 

In der Zelle, die war so ungefähr 30 Quadratmeter groß, waren wir 14 Leute, mehr als die Hälfte davon Politische, auch ein paar Aktivisten. Spannenderweise war es die Zelle Nummer V, wo auch Nawalny früher war. Die sieben Tage waren okay, weil man sich ja auch mit Gleichgesinnten unterhalten konnte und diskutieren, was man danach machen konnte oder wollte. Man hat nur wenig von der Außenwelt und der Ukraine erfahren und wurde gezwungen, russisches Radio zu hören, das die Wachen an- und ausgeschaltet haben. Da ging es in den Nachrichten gar nicht um die Ukraine, wohl aber um die Konsequenzen, welche Firmen weggehen und wie der Rubel immer weiter fällt. Und wir haben auch aus dem Radio erfahren, dass jetzt drei bis 15 Jahre Haft drohen, wenn Inhalte gepostet werden, die nicht den offiziellen Informationen entsprechen, wenn man die „Operation“ gegen die Ukraine zum Beispiel als Krieg bezeichnet. 

Aber Sie machen das ja? 

Ja, ich kann einfach nicht schweigen.  

Dimitri Androssow (mitte) demonstriet am 24. Februar 2022 in Moskau gegen Russlands Krieg in der Ukraine. Zwei Tage später wurde Androssow verhaftet und zu einer Woche Gefängnis verurteilt. (privat/TWU)

Warum setzen Sie sich für die Ukraine ein? 

Ich bin überzeugt, Putin führt den Krieg nicht nur gegen die Ukraine, sondern vor allem gegen mein Land, Russland. Es ist mein Land, nicht Putins Land. Tausende Soldaten sind schon gefallen, er ruiniert die Wirtschaft, – all das ist die wahre Katastrophe. Man hat gesehen, wie das Regime sich verschlimmert hat und jetzt ist nach 22 Jahren Putinscher Zeit der Hass ausgebrochen, er hat seine Aggression auf das Nachbarland übertragen. Es genügt ihm nicht, alle Oppositionellen umgebracht oder ins Gefängnis gebracht zu haben. Er macht das aus seinem Imperialismus heraus: Ein erniedrigtes Russland muss seine Stellung in Europa behaupten und das geht nicht ohne Krieg. Für viele Menschen im Westen war das unerwartet, dass er die Ukraine angegriffen hat. Für mich war es das nicht. Ich habe lange genug davor geschrieben, dass ein großer Krieg eine logische Konsequenz seines Regimes und dessen Hass gegenüber dem Westen und der Ukraine sei, den er seit Jahrzehnten mit Hilfe seiner Propaganda innerhalb des Landes ausgebreitet hat. Einen ihrer größten Höhepunkte fand die Propaganda im Kult des “9. Mai” mit ihrem verrückten aggressiven Militarismus, der stets gegen den Westen gerichtet worden war. All das konnte nicht nur bei Worten bleiben, sondern musste letztendlich in einen großen Krieg münden. Den Boden dafür bereitete Putins Propaganda also viele Jahre vor.

Wieso versteht man das nicht? 

Das ist pure Propaganda. Die Menschen erkennen die Realität nicht und oft haben sie einfach Angst, die Wahrheit zu erfahren. 

Kennen Sie selbst jemanden in der Ukraine? 

Ja, ziemlich viele.  Ich war 2014 das erste Mal in der Ukraine und verliebte mich total in das Land. Ich bin da extra hingefahren, um die Menschen auf dem Euromaidan zu unterstützen, und alles mit eigenen Augen zu sehen und habe da viele Freunde gefunden. Ein Freund kämpft gerade mit der Waffe in Kiew, ein anderer, Vater von zwei Kindern, macht auch mit. Wir versuchen, einander irgendwie zu unterstützen. Und generell haben viele Russen Freunde und Familie in der Ukraine. Ich komme selbst ursprünglich aus der Grenzregion, aber ich merke, dass meine Familie dort nicht so aufgeklärt ist wie ich.  

Dimitri Androssow (links) auf dem Euromaidan 2014 in der Ukraine. Die Revolution löste eine pro-Russische Regierung ab und richtete das Land Westlich aus. (privat/TWU)

Wie organisiert sich die Opposition? 

Ich bin immer vorsichtig, was historische Parallelen angeht, aber wie können Sie sich politische Opposition im Deutschland Hitlers oder im Russland Stalins vorstellen? Es gibt keine freien Wahlen, keine freien Medien mehr, keinen einzigen Oppositionellen im Parlament, es wird versucht, dass wir einfach totschweigen und nichts mehr machen. Wir sind noch da, aber wir können auch nicht auf die Straße und da Autoreifen anzünden. Es macht keinen Sinn, solange keine kritische Masse auf die Straße geht wie 2011. Jetzt sind wir in purer Diktatur gelandet, jeder versucht zu überleben. Noch sind wir als politische Partei tätig, aber wenn das Regime möchte, kann es uns morgen schon schließen. Wir versuchen, so weit es möglich ist, Menschen aufzuklären und demokratisch gesinnte Bürger des Landes in Großstädten anzusprechen. Wir sehen uns als einzige komplett vom Kreml unabhängige Opposition und werden uns treffen, solange wir nicht verboten und zerschlagen sind. 

Werden es aktuell mehr oder weniger Demonstranten? 

Wegen dem Fehlen der freien Medien kenne ich derzeit die Lage gar nicht, aber ich weiß, dass jeden Tag welche hingehen. Die Polizei arbeitet so, dass sie immer die Aktivsten verhaften oder verfolgen. So wurde ich zum Beispiel heute telefonisch gewarnt, an einer Kundgebung teilzunehmen. Bis jetzt wurden russlandweit mehr als 15.000 Menschen festgenommen. Man sollte auch rational denken. Wir brauchen nicht alle ins Gefängnis zu gelangen. Wir müssen schon verstehen, wann wir auf die Straße gehen können. Momentan trauen sich die Menschen vor Angst und Frustration nicht mehr, was zu machen. Aber ich glaube, es kommt der Moment, an dem es den Leuten reicht und dann liegt es an uns. Und wenn es alle auf einmal sind, dann wird das Regime nicht in der Lage sein, alle einzusperren.

Wissen die Russen vom Krieg und wenn ja, interessiert es sie überhaupt? 

Die meisten wissen von der Operation, wie ich den Krieg laut Gesetz nennen soll. Aber sie denken, dass die Russen Gebiete, die Ukrainer, von den bösen Faschisten befreien. Und nicht alle gehen auf die Kanäle, wo russische Soldaten erzählen, dass da keine Faschisten sind, dass Zivilisten beschossen werden und dass sie nach Hause geholt werden wollen. Der durchschnittliche Russe sagt, dass man dort Gutes tut – und schließlich führen die USA ja auch Kriege. Die Propaganda hat eben ihren Job gemacht. Eine russische Mutter, die vom Tod ihres Sohnes in der Ukraine erfahren hat, hat gegen die Unmenschen geschimpft, die ihren Sohn umgebracht haben und dass das gerächt werden müsse. Da gibt es keine Einsicht, dass ein brutaler Krieg von den Russen gestartet wurde, selbst von den Müttern nicht. Aber ich glaube, das wird sich noch ändern. Ich bin da generell positiv eingestellt. 

Aber im Großen und Ganzen will niemand den Krieg. Nur – die Menschen im Nazi-Deutschland wollten auch keinen Krieg, das ist kein Argument. Solange die Russen nicht verstehen, dass der Krieg nicht gerecht ist, wird sich die Einstellung nicht ändern. Wenn sie die Wahrheit endlich sehen, wird das ein sehr nüchterner Tag sein. Jetzt sieht man die ersten Konsequenzen an den Geldautomaten, McDonalds zieht weg, VW schließt und zahlt weniger. 

Wer ist auf Putins Seite, wer eher nicht? 

Die akademische Mittelschicht in den Großstädten ist nicht seine Zielgruppe, die er anzusprechen versucht. Vor allem die untere Schicht und die Älteren sind seine Unterstützung. Menschen über 40 waren auch oft nicht im Ausland, es ist oft schwierig, ihnen das nahe zu bringen. Viele können auch keine Fremdsprachen und schöpfen ihre Informationen nur aus russischen Quellen. Oder sie wissen, dass alles Propaganda ist und verlieren überhaupt das Vertrauen in alle Medien – das ist auch ein Verbrechen Putins, dass auch die Menschen, die gegen Putins Politik sind, gleichzeitig glauben, dass sie auch im Ausland keine Freunde haben. Sie glauben einfach nicht daran, dass jemand eine eigene Meinung haben kann, ohne dass sie von einem Propagandisten kommen kann.  

Könnte man es auf den Bildungshintergrund zurückführen? 

Das ist schwierig zu sagen. Ein Kollege aus der Partei mit einer eigenen Firma studiert auch Business an einer Stockholmer Uni und er sagt, dort unterstützen fast alle Putin. Sie denken als Imperialisten – obwohl sie die Welt gesehen haben. Die Menschen, die seine Innenpolitik schlecht fanden, finden jetzt seine Außenpolitik gut.  

Wie kann man sich in Russland noch unabhängig informieren? 

Telegram-Kanäle sind die erste Quelle, wer Fremdsprachen kann, nutzt auch ausländische Webseiten, zum Beispiel BBC oder ZDF. Facebook, Twitter und Instagram sind gesperrt, da benutzt man dann VPN-Server. Aber man muss wissen, wie es geht, und es ist verboten, sie zu benutzen, das wird bestraft. Weil offiziell wird ein Bild vermittelt, dass es ziemlich ruhig ist und das russische Militär Nazis ausschaltet. Aber die Bilder, die man aus anderen, freien Quellen bekommt, sind einfach furchtbar und schrecklich – und das wissen die meisten Menschen nicht. 

Stimmt es, dass es auf den Straßen Social-Media-Kontrollen gibt? 

Ja, das ist total krass. Es kann einfach passieren. Die Polizei stoppt Leute und fordert sie auf, das Handy vorzuzeigen. Die suchen da sicher nach verbotenen Dingen oder nach Informationen über die Operation in der Ukraine, die ein Bild des Krieges liefern.  

Wie wirken sich die westlichen Sanktionen und der Abzug der westlichen Unternehmen aus, auch auf die Stimmung der Bevölkerung? 

Es trifft bis jetzt vor allem normale Menschen wie mich. Zum Beispiel kann ich mein Ticket für den öffentlichen Verkehr nicht mehr online aufladen, sondern muss dazu zur Post und das bar machen. Die Preise steigen schon, zum Beispiel kostet Buchweizen, der in Russland sehr beliebt ist, schon dreimal mehr als vor dem Krieg. Und ich glaube, es wird immer noch extremer. Viele Russen leben in sehr einfachen Verhältnissen. Die Sanktionen sind absolut nötig und habe auch Verständnis dafür, dass sie auch Menschen wie mich treffen. Ich weiß nicht, was noch passieren muss, damit die Leute auf die Straße gehen, vielleicht wenn sie ihre Arbeit aufgeben müssen. Ich fände das schon wichtig, wenn die Sanktionen in erster Linie Putins engeren Kreis treffen würden. Dafür plädieren wir als Partei schon seit vielen Jahren. Großbritannien macht das sehr gut. Deutschland ist da eher zurückhaltend. Europäisch gesinnte Menschen verlassen das Land, ziehen ins Private oder warten darauf, auf die Straße gehen zu können – derzeit ist das sehr gefährlich. Die Stimmung ist momentan deprimierend. 

Dimitri Androssow mit der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel 2014 in Berlin. (privat/TWU)

Was hat es mit dem Z-Zeichen auf sich? 

Das ist einfach unerträglich. Es steht inzwischen auf allen Bussen, auch auf privaten Autos und überall. Ein Mann, der „Z = 卐“ gemalt hat, wurde dafür bestraft. Da weiß man schon die Konsequenzen, wenn man versucht, dagegen vorzugehen. Moskau ist eine Stadt mit Videokameras an jeder Ecke, nach chinesischem Vorbild. Wenn sie wollen, werden sie alles sehen und finden, was sie brauchen. Das Z-Zeichen kommt mir wie ein Hakenkreuz vor. Putin nennt die Ukraine faschistisch – ich nenne Putin und seine Leute Faschisten. Er geht sogar mit den gleichen Begründungen vor wie Hitler. 

Was soll der Westen tun? 

Den Luftraum schließen. Das ist der Krieg der europäischen Zivilisation mit der Barbarei. Wenn die Ukraine fällt, fällt Europa, da bin ich mir sicher. Und je weniger Opfer, umso besser. Natürlich gibt es Waffenlieferungen, aber ich schließe mich Selenskyj und Co. an, dass das jetzt genau das Nötigste wäre. Die Ukraine hat bewiesen, dass sie eine gute Armee hat, aber die Russen bombardieren einfach die Zivilbevölkerung. Und wenn das Menschenleben das Wichtigste ist, muss der Westen alles dafür tun, das zu schützen. Putin droht auch damit, in Tschernobyl Brennelemente zu sprengen. Er ist ein Verrückter. Ich hoffe, dass er einen Nuklearkrieg nicht startet. Aber ich glaube, er wäre durchaus bereit, eine taktische nukleare Waffe einzusetzen, wenn davon sein politisches Überleben abhängen würde.

Haben Sie Sorgen wegen einer Generalmobilisierung? 

Das könnte der Fall sein, wenn der Krieg noch länger andauert. Die Ukraine sagt, es gibt schon über 13.000 tote russische Soldaten, die Rechercheplattform Bellingcat spricht von 5000. Aber sie planen wohl eine Mobilmachung. In einer Region wurde auch schon eine Einberufungsstelle mit Molotowcocktails angegriffen. Und Putin hat auch schon inzwischen zugegeben, dass auch Grundwehrsoldaten eingesetzt sind. Das kann neben der wirtschaftlichen Situation zu großem Unmut führen, wenn noch der Einrückungsbefehl für normale Männer ab 18 Jahren käme. 

Oder wegen eines Einsatzes von Söldnern aus arabischen Ländern? 

Das ist ja schon der Fall, er hat schon die berüchtigte Wagner-Gruppe im Einsatz und welche aus Syrien. Und in Zentralafrika werden noch Milizen gekauft. Das ist so ein Verbrechen: Er sammelt auf der ganzen Welt den Abschaum, damit der dann Russen und Ukrainer umbringt. 

Verlassen wirklich viele Russen das Land als Flüchtlinge? 

Sehr viele Freunde/Bekannte sind ausgewandert, sie sind keinesfalls als Touristen ausgereist. Ich kenne das aus meiner eigenen Umgebung. Es ist nicht einfach, nach Europa zu gelangen, am ehesten geht es nach Helsinki oder Istanbul. Viele machen jetzt Urlaub in arabischen Ländern, da geht es ohne Visum – weil das Klima in Russland unerträglich ist, da zuzusehen. Es ist einfach schwierig, in so einem Moment im Land zu bleiben. Es gibt auch Menschen, die bedroht werden. Zum Beispiel ein Mann, der in Moskau eine ukrainische Flagge aufhing und dann vom Inlandsgeheimdienst FSB abgeholt und gefoltert wurde. Der ist am Ende mit Frau und Kind nach Kirgistan geflohen, die konnten hier einfach nicht mehr normal leben. Und politische Aktivisten und Journalisten sowieso. Es sieht wie in einer puren Diktatur aus. Aber die Russen wandern schon länger aus. Zum Beispiel ein Freund, mit dem ich 2016 noch Wahlkampagne gemacht habe, ist schon in Kalifornien und arbeitet jetzt bei Google. Aber ich verurteile die Menschen nicht, die auswandern. 

Denken Sie auch darüber nach? 

Man denkt schon darüber nach, ich hätte sogar ein Visum. Für mich als Politiker ist das aber nicht unbedingt eine Option – ich mache alles, was in meinen Kräften steht, um zu zeigen, dass es hier noch Menschen gibt, die sich für ein demokratisches Russland einsetzen. Ich mache das, was ich für richtig und notwendig halte. Notwendig für mein Gewissen und so, glaube ich, auch für mein Land. Wir erleben gerade Epochenwende, in der es mehr denn je den Mut benötigt nicht zu schweigen. Ich versuche einfach zu arbeiten und nicht daran zu denken, dass ich um jede Zeit wieder verhaftet werden kann, sonst wird man verrückt. 

Was sagen Sie zur Diskriminierung von Russen im Westen, die sich nicht klar gegen Putin positionieren? 

Aus meiner Grundüberzeugung als Liberaler kann ich niemandem aufzwingen, ein Statement abzugeben. Aber persönlich finde ich, dass die Russen, egal wo sie leben, Verantwortung übernehmen sollen und dass das Gewissen nicht schweigen kann. Ich fände das schon wichtig, wenn sich die Russen klar gegen den Krieg positionieren und die Tatsachen beim Namen nennen würden, vor allem, wenn man schon im freien Westen lebt. Ich glaube auch nicht, dass der Familie in Russland etwas drohen würde – nur die Familie von politischen Aktivisten im eigenen Land kann inhaftiert werden. Ich habe 2014 selbst vor der russischen Botschaft in Deutschland demonstriert und meine Familie hat keine Probleme bekommen. 

Wie hat sich Putins Regierungsstil über die Jahre verändert und was bedeutet das für die Opposition? 

Die ersten vier Jahre ab 2000 gab es wirtschaftliche Reformen, die waren sehr gut und nötig. Premierminister war der spätere PARNAS-Mitbegründer Michail Kassjanow, der die Reformen umgesetzt hat, den Rentenfonds, die Landreform, niedrigere Steuern. Das brachte den wirtschaftlichen Aufschwung der 2000er-Jahre. Putin positionierte sich damals als jemand, der Jelzins Politik fortführen, Russland zu einer Demokratie umwandeln wollte. Er sagte, es gebe keine andere Option und schloss nicht aus, dass Russland sogar NATO-Mitglied werden könnte. 

2003 hat er dann erstmals die Wahlen gefälscht, um keine Opposition mehr ins Parlament zu lassen. Mit Salamitaktik hat er die Medien ausgeschaltet, erst hat er mit den großen angefangen, nur die mit den kleinen Auflagen blieben. Dann gab es immer öfter Repressionen im Land und riesengroße Korruption. In den 2000er Jahren wurden aber noch alle Demonstrationen genehmigt. 

In den Medwedew-Jahren schien es nach einem Stück Liberalität. 2011/12 gab es die größten Demos. Unser Fehler war, dass wir das damals nicht zu Ende geführt haben. Die Menschen haben nachgelassen. Mit der Inauguration Putins 2012 gab es die größte Kundgebung, damals wurde ich das erste Mal verhaftet – 500 Rubel Strafe hat mich das gekostet. Heute würde ich 20.000 Rubel zahlen, so haben sich die Verhältnisse verändert. 

Medwedew hat Georgien angegriffen, als erster Versuch, die imperialistischen Gedanken nach außen zu bringen. Und dann kam 2014 die Ukraine mit der Krim und dem Donbass. Das war ein Wendepunkt. Es ging darum, alles dafür zu tun, dass die europäische Integration in der Ukraine nicht gelingt, weil das Putins Macht in Russland bedrohen würde.  

Mit der Annexion der Krim hat Putin aber auch unsere eigene Integrität in Frage gestellt. Laut Vertrag sind wir ein föderaler Staat, aber alles wird in Moskau entschieden, es ist ein imperiales Haus, das auch leicht gesprengt werden kann. Ich sage deswegen, dass dieser Krieg gegen Russland gerichtet ist, denn am Ende wird unsere territoriale Integrität bedroht. Es gibt mehrere Regionen, die unabhängiger von Moskau werden möchten. 

Putin ist aus meiner Sicht paranoid. Er sieht die USA hinter unseren Bewegungen, dass wir bezahlt werden für unseren Protest. Nawalny und Boris Nemzow waren damals starke Leute. Nemzow wurde 2015 ermordet – und dann entschied ich mich, seiner Partei einzutreten. Die Repressionsgesetze nahmen immer mehr zu. Man sah schon ziemlich deutlich, das muss in einer Diktatur enden. Es kam der Angriff mit chemischen Waffen auf Nawalny. Damit waren alle großen Personen im Land beseitigt und Putin hatte nichts mehr zu tun. 

Dimitri Androssow (rechts) mit dem berühmten Oppositionsführer Alexei Nawalny 2012 in Moskau. (privat/TWU)

Und die aktuelle Situation? 

Wir haben den Weg der Reformen der 1990er Jahre unglücklicherweise verlassen und unser Schicksal in die Hände eines sowjetischen Geheimdienstlers gelegt. Mit der Hölle 2020 in Belarus hat man zum ersten Mal gesehen, was diese sowjetischen Diktatoren machen können. Aber die Ukraine hat diese demokratischen Erfahrungen, hat drei Revolutionen hinter sich. Russland hat das nicht und deswegen glauben die Russen nicht an ihre eigenen Kräfte. Ich war beeindruckt, als ich dort war: Sie sehen gleich aus wie wir, sprechen auch Russisch – aber sie können ganz frei reden. Hier, in Russland, hast du einfach Friedhof. Die Propaganda nennt ihn “Stabilität”. Ich glaube aber, dass wir auch Demokratie verdienen. Dafür lohnt es sich zu kämpfen, selbst, wenn es für das Leben ein Risiko darstellt.  

Würden Sie Ihr Leben dafür opfern? 

Ich lese gerade Remarque, „Die Nacht von Lissabon“, und da gibt es am Anfang diesen einen Satz, der irgendwie sehr gut passe: „Es wäre ein Verbrechen, ein Leben mit Selbstmord zu verschwenden, das man gegen Barbaren seinesgleichen einsetzen kann.“ Also, um Selbstmord geht es ja nicht, aber sonst passt es ja.  

Was sind also die Aussichten? 

Das, was Lukaschenko 2020 in Minsk gemacht hat, macht Putin jetzt in Russland. Ja, es wird zunehmend schwierig, aber wir wissen, dass wir die richtige Sache machen. Es ist ein Riesenverbrechen gegen unsere Nation. Der Höhepunkt dessen, was Putin all diese Jahre gemacht hat – Medien schließen, Wahlen fälschen, in Georgien und Ukraine einmarschieren und jetzt der große Krieg. Ich glaube, Putin versteht diesen Krieg als einzige Legitimation, bis 2036 an der Macht zu bleiben. Er präsentiert sich als Retter Russlands vor dem bösen Westen. Die nächste „Wahl“ ist 2024 und er wollte damit wohl seine Ratings noch mal in die Höhe treiben – was ihm am Anfang wohl auch gelungen ist. Aber er hat wohl auch nicht damit gerechnet, dass es so lange dauert. Und Putin hat auch nicht unendliche Ressourcen. Die Armee und die Polizei sind die einzigen Säulen, auf die sich seine Macht stützt. Und er kann nicht zurück. Aber Umbruch in Russland war immer, wenn Kriege verloren wurden – dann musste die Regierung weg. 

Ist der Krieg gegen die Ukraine also eine Chance für Russland? 

Naja. In jeder Katastrophe kann man Chancen sehen. Aber man bringt diese Menschenleben nicht zurück und das Ansehen unseres Landes wird über Jahre beschädigt sein. Ich glaube nicht, dass eine demokratische Regierung das schnell richten kann. Wir sagen, es sind die Machthaber, die weg müssen. Putin beschäftigt sich schon lange nicht mehr mit dem Land, er hat die Außenpolitik zur Innenpolitik gemacht. Wenn den Menschen die Ukraine-Katastrophe bewusst wird, verliert er den Ruf, der Retter Russlands vor dem bösen Westen zu sein. 

Wie geht es langfristig weiter? 

Das ist eine große Katastrophe, dass wegen der Passivität der Russen in der Politik das dort jetzt passiert. Die Schuld der Russen ist jetzt enorm. Wir sind schuld vor vor der Ukraine, wir sind schuld vor dem Westen. Es gibt auch nur einen Ausgang: Ein westliches demokratisches Russland. Putin sagt, Russland ist nicht Europa, wir sind unsere eigene „Zivilisation“, sozusagen. Aber die meisten Russen verstehen sich als Europäer. Es wäre schön, wenn eine Demokratisierung von Russland aus selbst geschehen würde. 

Wie viel schwieriger ist das Leben in Russland in den vergangenen Jahren geworden? 

Es ist jetzt schwer zu sagen, ob es am Regime oder an Covid liegt. Wegen des Regimes wurden jetzt zum Beispiel  viele Ausbildungsprogramme geschlossen, Sprachtests für Auslandsstudien finden nicht mehr statt. Als ich 2008 das erste Mal nach Moskau kam, um zu studieren, war es eine europäische Stadt mit superguten Aussichten. Jetzt hätte man diese Gedanken nicht mehr, selbst das Unterhaltungsangebot gibt es nicht mehr – wegen der Repressalien und Sanktionen. Das Regime unterdrückt heute und schürt Angst. Die Leute bleiben lieber zu Hause, die einzigen unabhängigen Informationsquellen sind schon geschlossen.  

Wie groß ist die Unterstützung Putins in der Bevölkerung? 

Niemand würde aus freiem Willen für Putin auf eine Demo gehen. Sie haben die Politik dem Kreml überlassen und versuchen, ihr privates Leben möglichst gut zu gestalten. Nach dem Krieg geht das aber nicht mehr, da werden – ganz zu Recht – die Russen für die Verbrechen mitverantwortlich gemacht werden. Die Russen haben Putin und den Krieg schweigend zugelassen und die Schuld der Russen ist enorm. Der Krieg dauert da ja schon seit 2014, die Ukrainer leiden schon seit acht Jahren und seitdem sterben dort jeden Monat mehr ukrainische Soldaten als insgesamt deutsche Soldaten in Afghanistan starben, das waren 59. Es gibt Passivität und man glaubt nicht daran, dass man selbst was bewegen kann. Die Frage ist, wann sich das ändern wird, was sie dafür opfern müssen. Vielleicht ihre Arbeit. 

Haben Sie Angst? 

Angst hat man schon, aber wenn man Angst und Gewissen auf die Waage legt, ist die Angst eindeutig geringer als die Verantwortung und das Gewissen. Schweigen ist einfach keine Option. Wenn sie mich jetzt festnehmen wollen, werden sie das. Zu Hause erwarte ich jeden Tag, dass es wieder an der Türe klopft. Eine Verschlüsselung bei E-Mails ist auch schon egal. Es ist nicht schmerzhaft, verhaftet zu werden – solange man nicht gefoltert wird natürlich. Die Freiheit ist in mir, es sind nicht die äußeren Umstände. Für seine Überzeugung im Gefängnis zu sein ist nicht so schrecklich, wie wenn das große Verbrechen der weltlichen Dimension vor deinen Augen geschieht und dein Land daran schuld ist.

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